
Von Mäusen und Männern: lesenswertes Buch zur Gleichstellungspolitik
Richard Reeves, Mitarbeiter der linksliberalen Brookings Institution, geht mit der Gleichstellungspolitik hart ins Gericht. Dabei ist er gleichermaßen unzufrieden mit den Positionen der linken und der rechten Seite. Leider ist sein Buch bisher nur in englischer Sprache erschienen, eine Übersetzung ins Deutsche ist unwahrscheinlich.
Of Boys and Men: Why the Modern Male Is Struggling, Why It Matters, and What to Do About It von Richard V. Reeves, 256 Seiten, Brookings Institution Press (September 2022), 16,04 Euro bei Amazon, 23,49 Euro bei Geniallokal
Triggerwarnung und Spoileralarm: ich mag das Buch
Sachbücher finden Menschen meistens dann gut, wenn sie darin ihre Meinung bestätigt fühlen. So geht es mir mit diesem Buch. Zusammenfasst lässt sich das in meinem Satz, den Reeves am Ende schreibt. Dort heißt es, der Feminismus sei nicht etwa zu weit gegangen, sondern nicht weit genug (S. 220). Das ist vielleicht ungeschickt formuliert, ich würde lieber sagen, die Gleichstellungspolitik ist nicht weit genug gegangen, sie hat bisher nicht damit begonnen, die Nachteile von Männern zu beseitigen. Im Gegenteil, Bündnis90/Die Grünen, die sich als die Gleichstellungspartei in Deutschland sehen, wehren sich vehement gegen Versuche, Problem von Männern anzugehen.
So beschreibt Reeves, dass die hohe Übersterblichkeit von Männern nicht dazu geführt hat, dass Männer bevorzugt geimpft oder zumindest größere Forschungsanstrengungen unternommen wurden, um das Problem zu beheben. Als Frauen dann aber öfter unter Long Covid litten, gab es besondere Programme für Frauen. Diese Doppelmoral ist für Reeves das Problem und nicht der Versuch, die starren Rollen von Männern und Frauen aufzulösen. Und ich gebe ihm dabei recht. Zwar bestreitet Reeves nicht, dass es mitunter auch biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, doch die Differenzen sind oft kleiner als gedacht.
Keine Verbündeten
Wer so denkt, hat aber wenig Verbündete. Vor allem grüne und linke Parteien haben fast ausschließlich das Wohl der Frauen im Blick, rechte und konservative Parteien hätten gerne die alten Rollen zurück. „Ich habe die Zahl der Leute, die mir [vom Schreiben dieses Buches]abgeraten haben, nicht mehr zählen können“, schreibt er im Vorwort zu Of Boys and Men. „Im gegenwärtigen politischen Klima wird das Aufzeigen der Probleme von Jungen und Männern als ein gefährliches Unterfangen angesehen.“ Zum Glück hat Reeves diesen Rat nicht befolgt.

Reeves Buch ist voller Fakten, die die Probleme von Männern und Jungen aufzeigen. Etwa die höhere Arbeitslosigkeit, die auch auf eine Benachteiligung durch die Personalabteilungen zurückzuführen ist. Oder der größere Bildungserfolg von Frauen. In den USA ist die Geschlechterungleichheit an den Hochschulen sogar größer als vor 50 Jahren, diesmal allerdings zugunsten der Frauen. Viele Väter sehen ihre Kinder kaum, obwohl deren Einbeziehung nachweislich gut für die Kinder ist, vor allem für die Söhne. Auch das ist in den USA noch ausgeprägter als in Deutschland. Ein essenzieller Punkt ist natürlich die niedrigere Lebenserwartung von Männern und vor allem die hohe Zahl von „Tod durch Verzweiflung“, also durch Selbstmord, Alkohol oder andere Drogen.
Was Reeves fordert
Reeves beschreibt aber nicht nur die aktuelle Situation, sondern macht auch Vorschläge. Noch immer sind in den USA 82 Prozent der Sozialarbeiter, 78 Prozent der Psychologen, 76 Prozent der Berater für Drogenmissbrauch und 84 Prozent der Sonderschullehrer Frauen. Die Unterstützung institutioneller und staatlicher Bemühungen, Männer in diese Bereiche zu bringen, sollte ein unumstrittenes und überparteiliches Thema sein. Zumal sie einen Großteil der Drogenabhängigen und Sonderschüler stellen.
Doch Initiativen, mehr Männern in diese „HEAL“-Jobs (Health, Eduation, Adminsitration, Literacy) zu bringen, gibt es kaum. Dabei könnte das nicht nur den Fachkräftemangel dort reduzieren, sondern auch die Arbeit verbessern. Studien zeigen, dass Jungen von mehr männlichen Lehrkräften profitieren. Und wer Kinder hat, weiß stark unsere Grundschulen auf die Bedürfnisse von Mädchen ausgerichtet sind. Obwohl (oder vielleicht sogar weil) die Noten für Schrift abgeschafft wurden (zumindest in Bayern), wurden meinem Sohn von Lehrerinnen schon oft Punkte für zu schlechte Schrift abgezogen. Bei gleicher Leistung erhalten Jungen von Lehrerinnen einer britischen Studie zufolge schlechtere Noten.

Trotzdem gibt es kaum Initiativen für männliche Lehr- oder Pflegekräfte, schreibt Reeves. Die American Association for Men in Nursing biete fünf Stipendien mit einem Gesamtwert von etwas mehr als 10.000 Dollar an. Sie „hat keine Angestellten, ein Vermögen von 40.000 Dollar und ein Jahreseinkommen von 183.000 Dollar“. Die Society of Women Engineer habe dagegen drei Dutzend Beschäftigte, ein Vermögen von rund 19 Millionen Dollar und jährliche Ausgaben in Höhe von 12 Millionen Dollar. Hinzu kommen private Initiativen. Allein im Jahr 2019 hat die Melinda-French-Gates-Stiftung hat eine Milliarde Dollar zur Förderung der Chancen von Frauen in ganz Amerika zugesagt. „Wie wäre es [mit einer Förderung von Männern in HEAL-Jobs], Melinda“, fragt Reeves.
Es gibt biologische Unterschiede, aber sie sind geringer als gedacht
Auch Reeves bestreitet nicht, dass es biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Doch die Schnittmenge ist groß, mehrheitlich sind die durchschnittlichen Unterschiede zwischen zwei Männern größer als die zwischen dem Durchschnittsmann und der Durchschnittsfrau. Auch wenn solche geringen Unterschiede bei Extremwerten natürlich auffällig werden können. Doch wer Menschen kennt, weiß, dass sie Herdentiere sind. Hinzu kommen äußere Erwartungen, so suchen sich viele Frauen immer noch teilzeitkompatible Jobs, Männer dagegen solche mit hohem Einkommen.

Reeves macht deshalb einen ungewöhnlichen Vorschlag. Er propagiert eine allgemeine 30 Prozent-Quote. Frauen würden dann beispielsweise mindestens 30 Prozent der Beschäftigten im IT-Bereich stellen, Männer mindestens 30 Prozent der Grundschullehrkräfte. Eine Grenze von 30 Prozent würde nach Ansicht von Reeves einerseits Platz für Interessenunterschiede zwischen Männern und Frauen lassen, anderseits aber für mehr Diversität sorgen.
Wer vertritt die Interessen der Männer?
Für Reeves gibt es aktuell kaum jemand, der sich für die Interessen der Männer einsetzt. „Die Konservativen scheinen sensibler für die Kämpfe von Jungen und Männern zu sein“, schreibt er, „aber nur als Rechtfertigung dafür, die Uhr zurückzudrehen und die traditionellen Geschlechterrollen wiederherzustellen.“ Die „liberals“, also die politische Linke, interessiert sich ohnehin nicht für die Männer.
Das würde ich teilweise unterschreiben, wenn auch nicht in allen Punkten. Insgesamt sehe ich bei den Konservativen noch mehr Empathie für die Männer, auch über das Herstellen klassischer Rollenbilder hinaus. Doch auch hier ist es schwer, Menschen für das Thema Männergesundheit zu begeistern, weil sie auf biologische Unterschiede und die Eigenverantwortung verweisen. Während den Grünen das Thema einfach egal ist, sehe ich bei den klassischen Linken in SPD und Linkspartei die höchste Bereitschaft über Männergesundheit zu diskutieren, denn dort fühlt man sich dem Ideal der Gleichheit verpflichtet, auch bei der Lebenserwartung. Allerdings bleibt abzuwarten, ob das so bleibt, wenn beide zunehmend die Grünen kopieren wollen.
Fazit: unbedingt lesenswert
Auf diese deutschen Überlegungen geht Reeves natürlich nicht ein, in jedem Fall aber vereinigte er interessante Vorschläge und geballtes Fachwissen. Lange erörtert er die Unterschiede zwischen Männern und Frauen, sowohl in Bezug auf biologische Unterschiede als auch ihre aktuelle Situation in den USA. Wie erwähnt, ist das Buch nicht ins Deutsche übersetzt worden, wer ausreichend gut Englisch kann, sollte es aber auf jeden Fall lesen. Zumal es mittlerweile gut Übersetzungsprogramme gibt (ich empfehle DeepL). Leider funktioniert bei der Tolino-App das Kopieren von Text nicht, weshalb ich ausnahmsweise den Kauf über Amazon empfehlen. Wer einen Satz nicht versteht, kann ihn dort schnell in ein Übersetzungsprogramm kopieren.
Of Boys and Men: Why the Modern Male Is Struggling, Why It Matters, and What to Do About It von Richard V. Reeves, 256 Seiten, Brookings Institution Press (September 2022), 16,04 Euro bei Amazon, 23,49 Euro bei Geniallokal